Presseinformation: Wie in der Bronzezeit regulierende Märkte entstanden
Nr. 98 - 29.06.2021
Forscher der Universität Göttingen untersuchen Verbreitung von Gewichtssystemen in Westeurasien vor über 4.000 Jahren
(pug) Das Wissen um das genaue Gewicht eines Objekts bietet eine objektive Möglichkeit, um Waren auf dem Markt in ihrem Wert bewerten zu können. Aber gab es in der Bronzezeit überhaupt einen selbstregulierenden Markt? Und was können uns Gewichtssysteme darüber verraten? Ein Forscherteam der Universität Göttingen hat die Verbreitung von Gewichten in Westeurasien in der Zeit zwischen etwa 3000 und 1000 v. Chr. untersucht. Ihre Simulation deutet darauf hin, dass die bloße Interaktion von Händlern, ohne wesentliches Eingreifen von Herrschern oder Institutionen, die Verbreitung der neuen bronzezeitlichen Technologie von Waagen und Gewichten erklären kann. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienen.
Um herauszufinden, wie unterschiedliche Gewichtseinheiten in verschiedenen Regionen entstanden sind, verglichen die Forscher alle Gewichtssysteme, die in der genannten Zeitspanne zwischen Westeuropa und dem Indus-Tal in Gebrauch waren. Die Analyse von 2.274 Gewichten aus 127 Fundorten ergab, dass neue und sehr ähnliche Gewichtseinheiten allmählich westlich von Mesopotamien verbreitet wurden. Die Forscher modellierten die Entstehung von 100 neuen Einheiten, um herauszufinden, ob die Entstehung dieser Systeme auf eine Fehlerfortpflanzung beim Kopieren von Gewichten aus einem einzigen Gewichtssystem zurückzuführen sein könnte. Unter Berücksichtigung von Faktoren wie Messfehlern legt die Simulation einen einzigen Ursprung aller Gewichtssysteme zwischen Mesopotamien und Europa nahe. Es zeigte sich dabei aber auch, dass im Indus-Tal wahrscheinlich ein unabhängiges Gewichtssystem entwickelt wurde. Die Forschung demonstriert, dass, wenn der Informationsfluss im eurasischen Handel frei genug war, um ein im Ursprung gemeinsames Gewichtssystem zu generieren, es wahrscheinlich auch ausreichend war, um auf lokale Preisschwankungen zu reagieren.
Die Gewichtssysteme, die sich zwischen Mesopotamien und Europa herausbildeten, waren sehr ähnlich. Das bedeutete, dass ein einzelner Händler zum Beispiel von Mesopotamien in die Ägäis und von dort nach Mitteleuropa reisen konnte, ohne dass er sein eigenes Gewichtssystem ändern musste. Der Kaufmann konnte mit ausländischen Partnern Handel treiben und sich dabei einfach auf die Angleichung der Gewichte verlassen. Es gab eben keine internationale „Behörde“, welche die Genauigkeit der Gewichtssysteme über ein so großes Gebiet und über eine so lange Zeitspanne hätte regeln können. In Europa, außerhalb der Ägäis, gab es zu dieser Zeit auch keine staatsähnlichen Gebilde. Die Forscher schlussfolgern, dass die Entstehung von genauen Gewichtssystemen das Ergebnis eines globalen Netzwerks gewesen sein muss, das sich von unten nach oben regulierte.
„Mit den Ergebnissen unserer statistischen Analyse und den experimentellen Tests ist es nun möglich, die lange gehegte Hypothese zu belegen, dass freies Unternehmertum bereits in der Bronzezeit ein Hauptmotor der Weltwirtschaft war“, erklärt Prof. Dr. Lorenz Rahmstorf vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen. Kaufleute konnten interagieren, profitable Partnerschaften eingehen und die Chancen des Fernhandels nutzen. „Die Vorstellung eines sich selbst regulierenden Marktes, der vor rund 4.000 Jahren existierte, wirft einen neuen Blick auf die globale Wirtschaft der Neuzeit“, sagt Erstautor Dr. Nicola Ialongo. „Versuchen Sie, sich all die internationalen Institutionen vorzustellen, die heute unsere moderne Weltwirtschaft regulieren: Ist der globale Handel dank dieser Institutionen möglich oder trotz ihnen?“
Die Studie ist ein Ergebnis des durch die EU geförderten Projekts „Weight and Value“.
Originalpublikation: Ialongo, N., Hermann, R., Rahmstorf, L. 2021. Bronze Age weight systems as a measure of market integration in Western Eurasia. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS). DoI: https://doi.org/10.1073/pnas.2105873118
Kontakt
Dr. Nicola Ialongo
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Ur- und Frühgeschichte
Nikolausberger Weg 15, 37073 Göttingen
Tel: +49 (0)551 39-25078
E-Mail: nicola.ialongo@uni-goettingen.de
www.uni-goettingen.de/de/dr.+nicola+ialongo/569681.html
Prof. Dr. Lorenz Rahmstorf
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Ur- und Frühgeschichte
Nikolausberger Weg 15, 37073 Göttingen
Tel: +49 (0)551 39-25081