Die lateinischen Viten der 'trans(vestite) saints' im Kontext

Ansprechpartner: Dr. Michael Eber


Dieses Projekt nimmt eine bisher kaum genutzte Quelle für Vorstellungen von Geschlecht und Heiligkeit im frühmittelalterlichen lateinischen Westen in den Blick: die lateinischen Viten sogenannter „transvestitischer Heiliger“, d.h. Heiliger, die zu Beginn des Narratives als weiblich beschrieben werden, aber im Rahmen einer asketischen und/oder monastischen Konversion eine männliche gender expression annehmen. Diese Erzählungen waren sehr populär: Etwa 30 von ihnen entstanden zwischen dem 5. und 9. Jh. im griechischsprachigen östlichen Mittelmeerraum; viele von ihnen wurden bald ins Lateinische übersetzt, oft mehrmals, wobei die ältesten handschriftlichen Zeugnisse aus dem 8. und 9. Jh. stammen. Ab dem 10. Jh. tauchen auch Übersetzungen in fast alle westeuropäischen Volkssprachen auf.

Diese Texte sind seit Jahrzehnten Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Debatten. In der Mitte des 20. Jh.s waren psychoanalytische Lesarten vorherrschend; ab den 1970er Jahren wurde ihr transgressives Potenzial betont. Sie wurden jedoch auch als Stabilisierung eines patriarchalen, binären Geschlechtersystems gelesen, entweder indem sie misogyne Propaganda böten, der zufolge Frauen entweder weiblich oder heilig sein könnten, aber nicht beides, oder indem sie eine genuin weibliche Vision von Heiligkeit unterhalb äußerlicher Männlichkeit präsentierten. Einige haben diese Heiligen als liminale und/oder groteske Figuren gelesen, und in letzter Zeit drängen Historiker*innen aus der Queer History darauf, zumindest die Möglichkeit von Trans-Lesarten ernst zu nehmen. Im Mittelpunkt dieser Debatten standen meist die griechischen Originalfassungen, gefolgt von den volkssprachlichen Übersetzungen. Die lateinischen Fassungen hingegen wurden von der Wissenschaft kaum beachtet, und wenn, dann meist von Editoren, die bloße Textkritik betrieben.

Um die Forschungslücke zur lateinischen Überlieferung zu schließen, sollen die verschiedenen Ebenen der réécriture analysiert werden, um aufzudecken, wie westliche Schreiber diese Texte bei der Übertragung vom Griechischen ins Lateinische bzw. von einer lateinischen Version zur nächsten ihren jeweiligen Agenden anpassten. Ebenso wichtig sind die Handschriftenkontexte, in denen diese umgeschriebenen Texte überliefert sind. Sowohl im Hinblick darauf, welche Aspekte in den einzelnen Versionen hervorgehoben werden, als auch im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie von frühmittelalterlichen Schreibern kontextualisiert wurden, zielt das Projekt darauf ab, herauszufinden, welche der oben aufgeführten möglichen Lesarten – oder auch andere – für die Menschen, die sie im frühen Mittelalter (um)schrieben und lasen, dominant gewesen zu sein scheinen. Diese Fragen werden sowohl quantitativ angegangen, indem eine Datenbank mit dem Inhalt aller Handschriften aus der Zeit vor dem 13. Jh., die solche Viten überliefern, aufgebaut wird, als auch qualitativ, im Rahmen mehrerer eingehender Studien zu einzelnen Handschriften/Texten.