Heft 9/10 2025 Tondokumente und Audioeditionen
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 76 (2025), 9/10
Inhalt
Obwohl die Sound History schon seit geraumer Zeit einen beträchtlichen Aufschwung erlebt, werden auditive Quellen bislang weder von der historischen Forschung noch in der Lehre systematisch genutzt. Dies wirkt zum einen deswegen befremdlich, weil inzwischen zahlreiche Studien die enorme Bedeutung von Tönen und Klängen für ein umfassendes Verständnis des historischen Geschehens aufzeigen konnten. Zum anderen irritiert die nur zögerliche Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu den Tonquellen, da die digitale Archivierung heute immer mehr Originalaufnahmen für Forschungs- und Lehrzwecke zur Verfügung stellt.
In seinem Einleitungsbeitrag verdeutlicht Martin Rempe, dass die vorherrschende Scheu im Umgang mit auditiven Quellen einerseits auf spezifische disziplinäre Traditionen zurückgeführt werden könne. Andererseits habe sie etwas mit dem epistemologischen Stellenwert des Auditiven zu tun, der in den Geisteswissenschaften dem Visuellen nach wie vor nachgeordnet sei. Zur Korrektur empfiehlt Rempe den Einsatz einer „Heuristik des reflektierten Zuhörens“. Dass es dafür einer „auditiven Standortbestimmung“ bedarf, verdeutlicht der sich daran anschließende Beitrag von Muriel Favre. Sie zeigt außerdem auf, welchen „Mehrwert“ Audioquellen aufweisen, markiert indes ebenso die Hürden, die in der Praxis zu überwinden sind, um die Analyse von Tonquellen fruchtbar zu machen.
Die drei folgenden Aufsätze beziehen sich auf aktuelle Editionsvorhaben von Audioquellen. Den Auftakt machen Christoph Cornelißen, Muriel Favre und Dirk Stolper, die zurzeit im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsverbundes an einer von der DFG geförderten digitalen Text-und Audioedition der Reden Adolf Hitlers zwischen 1933 und 1945 mitwirken. In den Rundfunkarchiven liegen rund 350 Tonaufnahmen von Reden Hitlers vor, die um einen historisch-kritischen Anmerkungsapparat ergänzt in Zukunft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Darüber soll nicht nur die Rolle Hitlers als politischer Redner eingehend beleuchtet werden, sondern auch der allgemeinen NS-Forschung neue Impulse vermittelt werden. Der nachfolgende Bericht von Daniela Münkel, Mark Laux und Ronald Funke stellt die Vorarbeiten an einer Online-Audio-Edition von DDR-Spionageprozessen vor. Der besondere Wert diese Quellen liegt darin begründet, dass die Gerichtsaufnahmen aus den 1950er- bis 1980er-Jahren tiefe Einblicke nicht nur in die Arbeit der Staatssicherheit und ihren Einfluss auf die politische Strafjustiz der SED-Diktatur ermöglichen, sondern auch Aufschlüsse zu Entwicklungen in der DDR, den deutsch-deutschen Beziehungen und im Kalten Krieg erlauben. Welche weiteren Recherchen sich bei der Arbeit mit den Rundfunkaufnahmen ergeben, skizziert Friedrich Dethlefs in seinem Überblick zu den Tonaufnahmen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, der zugleich verschiedene Stadien der Überlieferungsgeschichte nachzeichnet.
Der abschließende Beitrag von Nikolaus Freimuth ist den „freien Radios“ in Italien gewidmet. Das Kernziel dieses Mediums war es, all den Menschen, deren Anliegen zuvor im Äther kein Gehör geschenkt wurde, eine Stimme durch die Integration von Radio und Telefon zu verleihen. Das wirkte zunächst wie eine politische Provokation, die jedoch von den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aufgegriffen wurde, indem auch sie sich die neuen Formen des Radiomachens zu eigen machten.
Angesichts der heute sich dynamisch verändernden Lage bei der Bereitstellung und Auswertung von Tonquellen ist das hier vorgelegte Themenheft ein Plädoyer für den Aufbruch zu einer multimediale Geschichtsschreibung, die sich durch das Bewusstsein für die besonderen methodischen und praktischen Herausforderungen im Umgang mit au¬ditiven Quellen auszeichnet.
Christoph Cornelißen
ABSTRACTS (S. 482)
EDITORIAL (S. 484)
BEITRÄGE
Martin Rempe
Zum Mehrwert auditiver Quellen
Plädoyer für eine multimediale Geschichtsschreibung (S. 485)
Muriel Favre
Authentisch und ungefiltert?
Überlegungen über die Arbeit mit Audioquellen in der Geschichtsschreibung (S. 497)
Christoph Cornelißen/Muriel Favre/Dirk Stolper
„Die Stimme Hitlers“
Ein Werkstattbericht zur digitalen Text- und Audio-Edition der Reden Adolf Hitlers zwischen 1933–1945 (S. 509)
Daniela Münkel/Mark Laux/Ronald Funke
Töne der Repression
Eine Online-Audioedition von DDR-Spionageprozessen (S. 524)
Friedrich Dethlefs
Die Tonaufnahmen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG)
Entstehung, Überlieferung, Quellenkritik (S. 535)
Nikolaus Freimuth
Eine höhere Provokation
Die italienischen „freien Radios“ und die Öffnung des Äthers (S. 543)
Laura Lobner/Johannes Meyer-Hamme/Korinna Schönhärl
Drei Spielfilme über die Wannseekonferenz als Anlass historischen Lernens (S. 555)
INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Alessandra Sorbello Staub
Geschichte hörbar machen
Tondokumente im Netz (S. 572)
LITERATURBERICHT
Barbara Schlieben
Früh- und Hochmittelalter
Teil I (S. 575)
NACHRICHTEN (S. 589)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 592)
ABSTRACTS
Martin Rempe
Zum Mehrwert auditiver Quellen
Plädoyer für eine multimediale Geschichtsschreibung
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 485 – 496
Der Beitrag untersucht den Mehrwert auditiver Quellen für die Geschichtswissenschaft und plädiert für eine multimediale Geschichtsschreibung. Trotz der wachsenden Bedeutung der Sound History wurden Tonquellen bislang kaum systematisch genutzt. Methodische Vorbehalte, disziplinäre Traditionen und begrenzter Zugang haben zu dieser Zurückhaltung geführt. Durch digitale Archivierung sind Tonquellen jedoch zunehmend verfügbar. Der Beitrag zeigt Wege auf, Tonquellen methodisch reflektiert zu analysieren, und fordert eine stärkere Integration in die historische Forschung und Lehre, um neue Perspektiven auf die Zeitgeschichte zu eröffnen.
Muriel Favre
Authentisch und ungefiltert?
Überlegungen über die Arbeit mit Audioquellen in der Geschichtswissenschaft
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 497 – 508
Der Bereich der Sound History, der sich mit Tondokumenten als historische Quelle befasst, ist bisher auf wenig Interesse gestoßen. Der Beitrag will das ändern, indem er zunächst heuristisch argumentiert und auf den Mehrwert von Audioquellen eingeht. Es folgen hermeneutische Überlegungen. Allem Anschein zum Trotz sind Tonaufnahmen nicht authentisch; immer ist das Gehörte das Produkt einer technischen Apparatur, wozu oft auch noch organisatorische und politische Erwägungen hinzukommen. Doch auch wir hören nicht ungefiltert; die Praxis des Hörens ist zeitspezifisch und kontextabhängig und wird teilweise unterbewusst gelenkt. Eine Reflexion über die eigene auditive Standortbestimmung, der Rückgriff auf Softwarewerkzeuge und das Anfertigen von Hörprotokollen können helfen, auf diese akustischen und auditiven Hindernisse zu reagieren.
Christoph Cornelißen/Muriel Favre/Dirk Stolper
„Die Stimme Hitlers“
Ein Werkstattbericht zur digitalen Text- und Audioedition der Reden Adolf Hitlers zwischen 1933 und 1945
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 509 – 523
Seit Januar 2024 arbeitet ein interdisziplinärer Forschungsverbund an einem von der DFG geförderten Langzeitprojekt „Edition der Reden Adolf Hitlers von 1933 bis 1945“. Ziel ist es, Hitlers Reden aus der NS-Zeit so weit wie möglich in ihrer Gesamtheit und im ursprünglich vorgetragenen Wortlaut sowie in ihrer akustischen Dimension zugänglich zu machen, und dies in drei Varianten: einer Printausgabe, deren Online-Version im Open Access und einer digitalen Text- und Audioedition. Der Beitrag fokussiert sich auf die 350 der insgesamt 770 Reden, die als Tonaufnahme überliefert sind. Er umfasst eine Skizze des aktuellen Forschungsstands zu Hitler als politischem Redner, eine Darstellung der Ziele der digitalen Text- und Audioedition und erste Einblicke in die Editionsarbeit am Beispiel der Rede zur Grundsteinlegung des „Hauses der Deutschen Kunst“ in München am 15. Oktober 1933.
Daniela Münkel/Mark Laux/Ronald Funke
Töne der Repression
Eine Online-Audio-Edition von DDR-Spionageprozessen
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 524 – 534
Das Bundesarchiv – Stasi-Unterlagen-Archiv verfügt über einen einmaligen Quellenschatz an Tonaufzeichnungen von politischen Gerichtsprozessen in der DDR, vor allem Spionage-Prozessen. Die Gerichtsaufnahmen aus den 1950er- bis 1980er-Jahren erlauben einen tiefen Einblick in die Arbeit der Staatssicherheit und ihren Einfluss auf die politische Strafjustiz der SED-Diktatur vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der DDR, der deutsch-deutschen Beziehungen und des Kalten Krieges. Um diesen einmaligen Quellenbestand für Forschung und Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, entsteht mit dem Projekt Töne der Repression eine Online-Audio-Edition. Im Anschluss an eine Pilotphase mit ausgewählten Spionageprozessen soll die Veröffentlichung sukzessive erweitert werden.
Friedrich Dethlefs
Die Tonaufnahmen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG)
Entstehung, Überlieferung, Quellenkritik
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 534 – 542
Der Beitrag gibt einen Überblick über Entstehung und Überlieferung der Tonaufzeichnungen des Rundfunks in Deutschland bis zum Ende der NS-Zeit und thematisiert die Herausforderungen, die sich daraus für die wissenschaftliche Arbeit mit Audiomaterial ergeben. Der erste Teil erläutert die verwendeten Tonträgerarten, ihre Archivierung und die aufgelaufenen Bestandsmengen. Im zweiten Teil werden die Zerstreuung der Bestände während der Kriegs- und Nachkriegsjahre und die Bemühungen um deren Rekonstruktion im heutigen Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) beleuchtet. Der Schluss skizziert die Herausforderungen, die sich aus den Eigenheiten der Tonträger und ihrer Entstehung sowie der komplexen Überlieferungsgeschichte der Bestände ergeben.
Nikolaus Freimuth
Eine hörbare Provokation
Die italienischen „freien Radios“ und die Öffnung des Äthers in den späten 1970er Jahren
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 543 – 554
1976 wurde der italienische Rundfunk liberalisiert, daraufhin gingen zahlreiche „freie Radios“ auf Sendung. Sie wollten den Menschen, deren Anliegen öffentlich kein Gehör geschenkt wurde, eine Stimme geben und öffneten das Medium durch die Integration von Radio und Telefon der breiten Partizipation. Ihr Handeln wirkte auf viele Zeitgenoss:innen wie eine Provokation. Dieser Beitrag spürt dieser Provokation da nach, wo sie ihren Widerhall fand: in den Tondokumenten des öffentlich-rechtlichen Radios. Diese geben davon hörbar Zeugnis, indem sie die freien Radios einerseits durch Ironie zu bagatellisieren versuchten, sich aber andererseits auch selbst die neuen Formen des Radiomachens zu eigen machten. Der Beitrag wirft schließlich methodische Fragen zur Arbeit mit Tondokumenten auf.
Laura Lobner/Johannes Meyer-Hamme/Korinna Schönhärl
Drei Spielfilme über die Wannseekonferenz als Anlass historischen Lernens
GWU 76, 2025, H. 9/10, S. 555 – 571
Der Beitrag entwickelt anhand von drei Spielfilmen der Jahre 1984, 2001 und 2022 über die Wannseekonferenz von 1942, wie Spielfilme als geschichtskulturelle Produkte ihrer Zeit verstanden und die in ihnen erzählten Geschichten fachspezifisch de-konstruiert werden können. Aufbauend auf der fachwissenschaftlichen Forschung zur Wannseekonferenz werden die Filme als Ausdruck der sich wandelnden Geschichtskultur in der BRD und den USA/Großbritannien befragt und auf ihre empirische, normative und narrative Triftigkeit untersucht. Im Zentrum steht die Frage, welche Deutungs- und Orientierungsangebote für ihre jeweilige Gegenwart gemacht wurden. Der Beitrag entwickelt konkrete Vorschläge zum historischen Lernen mit Spielfilmen im Geschichtsunterricht.