Heft 5/6 2025: Athenische Demokratie

Inhalt
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 76 (2025), 5/6

Ob an Universitäten oder an Schulen: Immer noch ist die Vorstellung vom demokrati¬schen Athen als Polis der volljährigen Männer mit Bürgerrecht weit verbreitet. Die Bürgerinnen hingegen seien ebenso von der Teilhabe an der athenischen Demokratie ausgeschlossen gewesen wie die Metökinnen und Metöken als dauerhaft in Athen lebende freie Menschen ohne Athener Bürgerrecht; ganz zu schweigen von den Sklavinnen und Sklaven. Das vorliegende Heft, das die Göttinger Althistorikerin Alexandra Eckert konzipiert und organisiert hat, stellt diese Vorstellung vor dem Hintergrund neuerer althistorischer Forschungen infrage, indem es die partizipativen politischen, religiös-kulturellen und sozialen Handlungsspielräume der genannten Gruppen neu vermisst.

Im ersten Beitrag geht Alexandra Eckert auf diese Forschungen ein, verweist dabei auf die Potenziale der Quellen und plädiert schließlich für eine Perspektive, die über die Teilhabe an der Polis im engeren Sinne hinausgeht, insbesondere über Volksversammlung und Gerichte, indem sie u.a. die Religion in den politischen Raum einbezieht. Eckert betont, dass diese Perspektive nicht zuletzt dazu geeignet ist, die athenische Demokratie auch in den Schulen neu zu entdecken. Ausgehend von einem Gesetz zum Schutz der Erwerbstätigkeit auf der Agora aus dem frühen 4. Jahrhundert vor Christus, das „Bürger“ und „Bürgerin“ – polίtēs und polίtis – in einem Atemzug nennt, begibt sich Angela Pabst im folgenden Beitrag auf die Suche nach jenen Frauen, die im klassischen Athen das Bürgerrecht besaßen. Indem auch Pabst den politischen Raum der Polis über die Teilhabe an den Verfassungsorganen hinaus ausweitet, gelingt es ihr, die Bürgerin als Pendant zum Bürger und damit als politische Akteurin auch in den potenziellen Vorstellungswelten der Athenerinnen und Athener aufzuspüren: ob im religiösen Kultgeschehen oder in der sozialen Kommunikation.

Im dritten Beitrag zeigt Sara Wijma, wie die Metökinnen und Metöken in die polisweiten Kultfeste Athens eingebunden waren. Obwohl sie sich in den Festen äußerlich von den Athener Bürgerinnen und Bürgern unterschieden – etwa durch die mitgeführten Kultgegenstände –, diente ihre Teilhabe doch der Stärkung des sozialen Zusammenhalts, wobei die Anerkennung ihrer Leistungen in Armee und Flotte Athens eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Wijma lässt keinen Zweifel daran, dass die Metökinnen und Metöken über ihre kultische Einbindung in die Athener Polisreligion zu Mitgliedern der Polisgemeinschaft wurden – und erteilt damit den immer noch häufigen Zuschreibungen als „Fremde“ oder gar „Außenseiter“ eine Absage. So groß die rechtlichen und sozialen Unterschiede zu den Metökinnen und Metöken waren: Im vierten Beitrag führt Balbina Bäbler vor Augen, dass auch die Sklavinnen und Sklaven in der athenischen Demokratie durchaus Handlungsspielräume hatten, die sich nutzen und erweitern ließen. Handlungsspielräume, die größer waren als in nicht-demokratischen Poleis: vor allem im Haushalt, aber auch in öffentlichen Ordnungszusammenhängen. Je nach Tätigkeit gab es „free spaces“, die Begegnungen zwischen den verschiedenen Gruppen ermöglichten und die zumindest temporär dazu beitragen konnten, soziale Grenzen zu verwischen.

Abschließend untersucht Andrea Eckert Geschichtsschulbücher für Gymnasien aus unterschiedlichen Bundesländern und moniert dabei den alles in allem männer- und bürgerzentrierten Blick auf das demokratische Athen. Indem die Schulbücher, so Eckert, die verschiedenen Formen der Teilhabe an der Polis weitgehend unberücksichtigt lassen, erschweren sie zugleich eine angemessene komparatistische Perspektive auf die Demokratie als Form gelebter demokratischer Werte.

Peter Burschel

ABSTRACTS (S. 242)


EDITORIAL (S. 244)


BEITRÄGE

Alexandra Eckert
Formen der Teilhabe an der demokratischen Polis Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.
Neue Perspektiven der Forschung (S. 245)

Angela Pabst
Auf den Spuren der Bürgerin des klassischen Athen (S. 259)

Sara Wijma
An der Polis teilhaben
Zur Partizipation von Metökinnen und Metöken an den polisweiten Kultfesten im demokratischen Athen (S. 277)

Balbina Bäbler
Sklavinnen und Sklaven in der athenischen Demokratie der klassischen Zeit (S. 291)

Alexandra Eckert
Frauen, Metöken und Sklaven – ausgeschlossen von der demokratischen Polis Athen?
Anregungen für eine Integration neuerer Forschungen in Geschichtsschulbüchern (S. 306)

Andreas Luh
Zum Phänomen des Scheiterns im Kontext der römischen Gladiatur S. 321)


INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
Demokratie vom Amfang an
Internetressourcen zur athenischen Demokratie (S. 337)


LITERATURBERICHT

Martin Kintzinger
Mittelalter allgemein und spätes Mittelalter
Teil II (S. 340)


NACHRICHTEN (S. 353)


AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 360)


ABSTRACTS

Alexandra Eckert
Formen der Teilhabe an der demokratischen Polis Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr.
Neue Perspektiven der Forschung
GWU 76, 2025, H. 5/6, S. 245 – 258
In der Forschung existiert seit langem eine auf politische Institutionen ausgerichtete Perspektive, die Teilhabe an der demokratischen Polis Athen in klassischer Zeit vor allem als Domäne des erwachsenen männlichen Bürgers versteht, der das Recht zur politischen Partizipation an den Institutionen der Polis sowie zur Bekleidung von Ämtern hatte. Die Frage, welche Rolle Frauen mit Bürgerstatus, Metökinnen und Metöken (Zugewanderte nach Athen) sowie Sklavinnen und Sklaven hatten, rückt in der Forschung jedoch mittlerweile stärker in den Vordergrund, um zu einer differenzierten Bewertung von Teilhabe an der demokratischen Polis Athen zu gelangen.

Angela Pabst
Auf den Spuren der Bürgerin des klassischen Athen
GWU 76, 2025, H. 5/6, S. 259 – 276
Die Entstehung eines Begriffs für die „Bürgerin“ und dessen Nutzung im öffentlichen Raum von Theater und Gericht; die explizite Nennung von „Bürger und Bürgerin“ in einem Gesetz; der Schutz jedes Menschen vor Demütigung mit ausdrücklicher Erwähnung von Mann und Frau; die Angriffe von Kritikern wegen Herstellung von „Gleichberechtigung und Freiheit“ zwischen den Geschlechtern: All dies (und noch mehr) zeigt, dass es zu kurz greift, sich bei dem Thema von Frauen und Demokratie nur auf den Negativbefund einer fehlenden Teilhabemöglichkeit an Verfassungsorganen im engeren Sinn zu konzentrieren.

Sara Wijma
An der Polis teilhaben
Zur Partizipation von Metökinnen und Metöken an den polisweiten Kulten im demokratischen Athen
GWU 76, 2025, H. 5/6, S. 277 – 290
Das athenische Bürgerrecht wird traditionell als Teilhabe an den politischen und rechtlichen Institutionen der Polis verstanden. Begründet wird diese Sicht mit Aristoteles’ Charakterisierung des Bürgers als einer Person, die Anteil hat an Richterfunktionen und an politischen Ämtern. Weil Metöken, nach Athen übergesiedelte und dort dauerhaft lebende freie Personen, an den politischen und rechtlichen Institutionen der Polis keinen Anteil hatten, wurden sie von der Forschung bisher kaum beachtet. Dieser Beitrag möchte diesem Forschungsdesiderat begegnen. Er beleuchtet, wie Metöken als Mitglieder der Athener Polisgemeinschaft wahrgenommen wurden, da die Athener sie in die Kulte der Polis einbanden.

Balbina Bäbler
Sklavinnen und Sklaven in der athenischen Demokratie der klassischen Zeit
GWU 76, 2025, H. 5/6, S. 291 – 305
In der antiken Welt war Sklaverei allgegenwärtig und kaum umstritten. Sklavinnen und Sklaven galten zwar als rechtloser Besitz, übten aber sehr unterschiedliche Tätigkeiten aus. Ein differenziertes Bild der Sklaverei ist daher nötig. Versklavte Personen arbeiteten nicht nur unter schweren physischen Bedingungen, sondern auch in Vertrauensstellungen, an der Seite von freien Bürgern und in Tätigkeiten, die den Erwerb von Wohlstand ermöglichten. In vielen Bereichen waren die gesellschaftlichen Grenzen durchlässiger als oft angenommen.

Alexandra Eckert
Frauen, Metöken und Sklaven – ausgeschlossen von der demokratischen Polis Athen?
Anregungen für eine Integration neuerer Forschungen in Geschichtsschulbücher
GWU 76, 2025, H. 5/6, S. 306 – 320
In Schulbüchern für den Geschichtsunterricht findet sich verbreitet die Aussage, Frauen, Metöken und Sklaven seien als ausgeschlossen von der demokratischen Polis Athen im 5. und 4. Jh. v. Chr. zu betrachten, weil ihnen die Teilhabe an Volksversammlung und Gerichten sowie die Bekleidung von Ämtern der Polis verwehrt gewesen sei. Neuere althistorische Forschungen betonen jedoch Formen der Teilhabe an der Polis auch jenseits der Ausübung von Magistraturen und der Mitwirkung an politischen Institutionen. Der Beitrag plädiert dafür, diese jüngeren Forschungsergebnisse in Schulbücher zu integrieren, um zu einem differenzierteren Bild der Einbindung verschiedener sozialer Gruppen in die demokratische Polis Athen zu gelangen.

Andreas Luh
Zum Phänomen des Scheiterns im Kontext der römischen Gladiatur
GWU 76, 2025, H. 5/6, S. 321 – 336
Das Scheitern des Gladiators im Kampfgeschehen und die eventartig inszenierte Entscheidung über das (Nicht-)Weiterleben des Akteurs durch die ,demokratische Beteiligung‘ der Zuschauer waren das charakteristische Kennzeichen der römischen Gladiatur und vor allem das emotional aufwühlende Schlüsselerlebnis des Kampfgeschehens. Ausgehend von dem Kampfgeschehen, wird literaturbasiert und quellenkritisch erschlossen, wie Scheitern und Erfolg in den römischen Amphitheatern in Erscheinung traten. Denn der Gladiator konnte im Kampf verlieren, aber er scheiterte nicht, wenn er in seiner Niederlage den Wertvorstellungen Roms entsprach und vom Veranstalter begnadigt wurde. In symbolischer Interaktion führten die kämpfenden Gladiatoren den Zuschauern die zentrale römische Tugend der virtus vor Augen und verdeutlichten, was es bedeutete, ein Römer zu sein.